HANS BISCHOFF
Im Bann der Rache
Dienstag, 10. Juli 2018
Prolog
Er hasste es, mitten in der Nacht aufzuwachen. Wenn sein Trauma und seine Zweifel abrupt aufflammten und ihn schlecht wieder einschlafen ließen. Er linste aus nur zu schmalen Schlitzen geöffneten Augen schlaftrunken auf das Leuchtdisplay des Radioweckers neben seinem Bett. Zehn nach vier. Hatte er das leise Geräusch, eine Art Scharren, geträumt oder tatsächlich gehört? Werden wieder der Marder oder die Wildschweine gewesen sein, die ständig ums Haus schlichen. Er war unsicher, gab sich aber mit diesem Gedanken zufrieden. Zudem hatte sich Diva, seine Bassethündin, auch nicht gemeldet, was seine Einschätzung bestätigte. Allerdings tendierte Divas Qualifikation als Wachhund ohnehin gegen Null.
»Egal!«
Camillo Mancini, bis vor einem Jahr Vicequestore bei der Polizia di Stato, der zivilen Staatspolizei in Rom, quälte sich aus dem Bett und schlurfte durch die Dunkelheit ins Bad. Nicht nur seine Stirn glühte, der ganze Körper fühlte sich klebrig an. Mund und Rachen waren wie ausgedörrt, seine Lippen klebten zusammen. Er pinkelte und trank danach gierig einen Schluck Wasser direkt aus dem Hahn. Dabei verschluckte er sich und musste ein paar Mal husten.
Selbst während der Nacht fiel die Temperatur in diesem außergewöhnlich heißen Sommer selten unter 25 Grad. Sein Freund Bruno aus Turin hatte recht. Es war der Klimawandel, wenn sogar hier in Arcidosso, dem kleinen Städtchen auf den sanften Hügeln der südlichen Toskana, Anfang Juli tropische Hitze herrschte, die den Asphalt zum Schmelzen brachte. Tagsüber hatte Camillo mit Temperaturen weit über dreißig und mehr Grad kein Problem, da konnte er sich in die kühleren Räume des alten Rusticos zurückziehen, das er in den letzten Jahren zu seinem Wohnhaus ausgebaut hatte. Aber nachts fühlte er sich dabei unwohl.
Wobei dies nicht nur allein mit dem Klima zusammenhing, ging ihm durch den Kopf. Es war sein Trauma, das ihn überfiel.
Zurück im Bett legte er die dünne Decke nur noch über die Beine und fächelte sich mit beiden Händen etwas Luft zu. Dann holten sie ihn wieder ein. Die bohrenden Zweifel an der eigenen Arbeit bei seinem letzten großen Fall. Zweifel, die immer wieder auftauchten, ohne dass er sie konkret begründen konnte.
Franco Russo, aufstrebender Politiker und Vorsitzender der Oppositionspartei Tre Mani im Regionalrat saß wegen ihm seit knapp zwei Jahren lebenslänglich im Gefängnis.
Russo, der sogenannte Hortensienmörder.
Camillo Mancini war absolut sicher gewesen, den Richtigen überführt zu haben, obwohl der stets seine Unschuld beteuert und nie ein Geständnis abgelegt hatte. Die Indizien schienen eindeutig zu belegen, dass Russo die beiden jungen Frauen getötet und mit einer Hortensienblüte in der rechten Hand präsentiert hatte. Kein glaubwürdiges Alibi, nachweisbarer Kontakt zu einem der Opfer und Hunderte Fotos und Videos gefolterter Frauen passwortgesichert auf dem Rechner im Büro. Mancini hatte seine Ermittlungen und die Schuldgründe bei der Gerichtsverhandlung vor dem Geschworenengericht überzeugend vertreten. Die Medien erhoben ihn zum Helden, der das Monster von Rom, den Triebtäter, zur Strecke gebracht hatte. Auch wenn er es nie zugab, Mancini hatte sich nicht schlecht gefühlt ob der Bewunderung und genoss sowohl das Urteil als auch seinen neuen Status als Star.
Es war sein persönlicher Sieg.
Bis zu jenem Moment, als er den Gerichtssaal verließ und in die traurigen Augen der im Rollstuhl sitzenden Mutter blickte, neben der Russos junge Frau und ihr kleiner Sohn warteten.
»Sie haben meinen Franco zum Mörder gemacht! Sie!«
Mehr sagte die alte Frau nicht. Sie blieb ganz ruhig und nickte ihrer Schwiegertochter zu, die sie am sprachlosen Vicequestore vorbei in den Lift des Landesgerichts in Rom schob. Vorbei an der Schar der Reporter und der TV-Moderatorinnen vor den laufenden Kameras, die den Prozess begleitet und – je nach politischer Couleur – Franco Russo schon längst gnadenlos vorverurteilt hatten.
Seit der Begegnung mit Russos Mutter zweifelte Mancini an sich selbst und am Ergebnis seiner Ermittlung und schlief schlecht. Er schottete sich in seiner neuen Heimat bis auf wenige Kontakte konsequent ab und grübelte. Habe ich ihren einzigen Sohn, den Ehemann und Familienvater, zum Mörder gestempelt? Habe ich den entscheidenden Fehler begangen? Wollte man Russo politisch loswerden und ich habe dabei als nützlicher Idiot mitgewirkt? Ist er doch unschuldig? Habe ich ihn zum Mörder gestempelt? Habe ich eine Familie ins Unglück gestürzt?
Fragen, die ihm auch jetzt, ein Jahr nachdem er vorzeitig den Dienst quittiert hatte, Albträume bescherten und ihn immer wieder nach den Kopien der Ermittlungsakten greifen ließen. Er hatte die Akten nie abgelegt. Diese Dokumentation seines Erfolges. Oder seines Versagens.
»Verdammte Scheiße! War es ein Fehler? Bin ich zu weit gegangen?«
Noch fand er keine Antwort. Er fürchtete jedoch, dass die Wahrheit mehr als unangenehm werden könnte. Einen möglichen Fehler vertuschen oder zugeben? Oder endlich den wirklich entscheidenden Beweis für Russos Schuld finden und wieder in Ruhe schlafen?
Camillo Mancini ging es nicht gut in dieser Zeit des Zweifelns. Er hatte Angst vor den Konsequenzen.
»Will ich wirklich die Wahrheit wissen?«