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Seeweiß.

Aktualisiert: 20. Apr. 2021

Eine 2-Minuten-Kurzgeschichte,ausgelöst an einem nebelverhangenen, grauen Vormittag am Bodensee.


Viel höher stand der See damals. Er konnte sich so genau erinnern, als wäre es gestern gewesen. Die Warntafel für die Schwimmer des benachbarten Freibads hatte sich nicht verändert. Nur das Wasser. Es reichte heute gerade noch ein paar lumpige Zentimeter an dem Pfahl hoch, der die kleine Tafel hielt. Es wäre heute einfacher. Er würde sich nicht so elend durch den Schlick mühen müssen, wie vor sechzehn Jahren. Die Schmerzen hatten ihn noch Tage verfolgt. Er fokussierte den Blick nicht länger auf die kleine Tafel, sondern nahm erst jetzt das nur schemenhaft leicht aus dem Weiß der Landschaft herausragende gegenüberliegende Seeufer wahr. Der See, das Ufer und der Himmel darüber verschmolzen heute miteinander. Sie hatten keine Farbe. Nur ein unterschiedlich abgestuftes helles Grau. Und weiß. Wobei, er korrigierte sich selber, weiß ist doch eine Farbe. Eine Farbe der Reinheit. Er schloss die Augen, er konnte es erahnen. Nur ganz kurz, aber der Kontrast war gespeichert. Rot auf weiß. Rot auf Seeweiß. Ihm gefiel dieses Wort. Das Blut auf dem See. Heute würde es leuchten. Damals war es kaum zu unterscheiden vom dunklen, brackigen Wasser an diesem grauen Novembertag vor sechzehn Jahren. Als sich alles verändert hatte. 

Der wilde Schrei einer Möve riss ihn in die Realität zurück. Es wäre heute schwerer gewesen, die tote Frau im See verschwinden zu lassen, kam ihm in den Sinn. Die tote Frau, die er geliebt hatte. Die Frau, die er nicht getötet hatte. Er hatte es aber gestanden und fünfzehn Jahre dafür gesessen. Bis gestern. Er drehte sich um, weg vom weißen See und lächelte.


„Danke, Papa“, sagte seine Tochter, die auf ihn gewartet hatte.



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